Buchbesprechung: »Vatermal« von Necati Öziri 

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Mein abschließender Buchtipp für diesen Advent ist eines der besten Bücher, das ich in 2023 lesen durfte.

Es handelt sich um eine besondere und zugleich nicht untypische Geschichte einer Familie mit Migrationshintergrund, geschrieben als Erinnerung eines Sohnes, der schwerkrank im Krankenhaus liegt. Er erzählt von seiner Kindheit mit einem abwesenden Vater, einer psychisch instabilen Mutter und einer älteren Schwester.

Zusätzlich lernen wir die enorm harte Kindheit seiner Mutter in der Türkei kennen, die als Jugendliche bereits auf dem Feld arbeiten und sich um die beiden kleineren Geschwister kümmern musste. Als die Familie seiner Mutter bei einem Erdbeben alles verlor, gingen die Eltern nach Deutschland zum arbeiten; für die ersten drei Jahre ohne sie und ihre Geschwister, die bei einer verhassten Tante untergebracht wurden. Erzählt wird außerdem die Jugend der Schwester des Haupterzählers, die sich zeitweise sehr liebevoll um ihren kleineren Bruder kümmerte, aber auch mit eigenen Herausforderungen zu kämpfen hatte und zeitweise aus der Familie genommen und bei einer Pflegefamilie untergebracht wurde.

Sehr intensiv, intim und ehrlich; geschrieben in einer klugen, unaufdringlichen Sprache, die einem sehr nahe geht. Traurig und humorvoll zugleich.

Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie der letzte Sommer meiner Jugend war, bevor fast alle meine Freunde verschwunden sind. Du sollst wissen, wie es war, als deine alten Freunde mir auf die Schulter klopften und sagten, ich würde irgendwann werden wie du: Held einer gescheiterten Revolution. Ich werde diese Geschichten aufschreiben.

Lesenswert nicht zuletzt für all diejenigen von uns, die wie ihre Eltern in Deutschland geborenen sind. Weil viele von uns – zumindest ich – recht wenig über das Leben von Familien mit Migrationshintergrund mitbekommen. Über die Zeit davor, aber auch über ihr Ankommen und ihre ersten Jahren in Deutschland. Sowie über das Aufwachsen ihrer Kindern, die in jungen Jahren hierher kamen oder hier geboren sind. Sehr beeindruckt haben mich in »Vatermal« neben der erschütternd schweren Kindheit der Mutter in der Türkei z.B. die regelmäßigen (und meist ergebnislosen) Behördenbesuche der Mutter mit ihren beiden staatenlosen Kindern sowie das voreingenommene Verhalten der Polizei gegenüber den jugendlichen Migrantenkindern.

Denn heute ist es endlich soweit. Ich bin achtzehn. Da heißt: Ich werde offiziell Deutscher.

Junge Menschen, die aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, schreiben zunehmend Romane über das Ankommen in Deutschland, über ihre Kindheit, ihre Jugend, ihren Start in Ausbildung und Beruf, die ich mit großen Interesse lese. Wärmstens empfehlen möchte ich in diesem Zusammenhang auch »Meine Jahre mit Martha« von Martin Kordić sowie das von mir bereits im Sommer besprochene Buch »Vater und ich« von Dilek Güngör.

Enorm bewegend ist das Herzstück dieses Romans, der Brief an den Vater, der sich durch das gesamte Buch zieht, und in dem der im Krankenhaus liegende Ich-Erzähler seinen Vater namens Metin direkt anspricht. Sehr intensiv und ehrlich, in einer unaufdringlichen, klugen Sprache gehalten; vollerRadikalität, aber auch deutlich spürbarer Sehnsucht.

Wir übten ihr zu sein, auch weil es die anderen von uns erwarteten. Dieselbe Oma, die mich mit Liebe überhäufte, sagte auch immer wieder, dass ich der Mann im Haus sei, und sie sagte es, weil du, Metin, es nicht warst. Ihr seid vielleicht abgehauen, aber wir konnten euch nicht entkommen. Ihr wart beides, weg und trotzdem da.
Und deshalb hätten wir euch doch gebraucht. Aber anders. Damit ihr uns vorlebt, wie man mit der Gewalt, die in einem schlummert, umgeht, wie man Wut in Taktik verwandelt, wie man sich nicht schämt für seine behaarten Finger, wie man später seinem Kind ein Vater wird.
Ich verspreche dir, sollte ich es doch irgendwann aus diesem Krankenhaus schaffen, wird dein Enkelkind mir in zwanzig Jahren keinen Brief schreiben müssen.

Dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse durfte ich Necati Öziri auf der Literaturbühne erleben und war sehr beeindruckt und berührt von seiner zurückhaltenden, klugen und reflektierten Art. Die ich auch in diesem wunderbaren Buch wiederfinde, das ich allen nur wärmstens ans Herz legen und zur Lektüre sowie zum Verschenken empfehlen möchte. Necati Öziri stand mit seinem Debüt Roman völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Necati Öziri ist Theaterautor, u.a. für das Maxim Gorki Theater in Berlin; sehenswert ist sein Buchtrailer für »Vatermal«.

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Vatermal
Necati Öziri
 

ISDN 9783546100618
Claassen Verlag