1) Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Thema Wechselmodell zu befassen?
Ich kam schon vor über 10 Jahren auf das Thema Wechselmodell über eine Kollegin aus dem deutschen Juristinnenbund (djb), in dem ich über 25 Jahre lang aktives Mitglied war. Ich wurde gebeten, die sozialwissenschaftlichen Grundlagen zum Wechselmodell zu recherchieren. Ich begann mit dem Ziel, einen familienrechtlichen Aufsatz darüber zu schreiben und endete vier Jahre später mit einem Fachbuch, dass beinahe 1000 Seiten hat. Das Thema hat ungeheuer viele Facetten, sowohl rechtlich, aber auch psychologisch und gesellschaftlich. In meinem Buch “Wechselmodell: Psychologie – Recht – Praxis” (2013) habe ich versucht, den damaligen Stand der Wissenschaft und der Rechtsprechung in Deutschland zusammenzutragen. Leider hat sich der djb mit dem Thema Wechselmodell auf dieser Grundlage nicht weiter auseinandersetzen wollen, was ich sehr bedauere und wofür ich frauenrechtspolitische Gründe vermute, die unter Gleichberechtigung etwas anderes verstehen als ich.
2) Was halten Sie von der Idee, das Wechselmodell als rechtliches Leitbild für den Umgang nach Trennung zu etablieren? Welche Vorteile und welche Nachteile sehen Sie?
Nur unter einem gesetzlichen Leitbild von gleichberechtigter Elternschaft, die auch durch eine Betreuung im Wechselmodell nach Trennung und Scheidung zum Ausdruck kommt, kann Gleichberechtigung etabliert werden. Ich halte ein solches rechtliches Leitbild nicht nur für verfassungskonform, sondern geradezu von unserem Grundrechtsverständnis her gefordert. Das Leitbild „Shared Parenting“ entspricht übrigens auch den Forderungen des Europarats in seiner Resolution zu Shared Parenting (2015). Ein Rollenbild der Frau als Mutter, die überwiegend für Betreuung und Hausarbeit zuständig ist, entspricht nicht mehr dem Familienbild moderner junge Familien unserer Zeit. Trotzdem wird nach Trennung und Scheidung meist dieses Rollenmodell zu Grunde gelegt, obwohl die Eltern in der Zeit des Zusammenlebens sich bemüht haben, Rechte und Pflichten der Familienarbeit gerecht aufzuteilen. Hier ist die gesellschaftliche Entwicklung dem Recht weit voraus.
Ein rechtliches Leitbild bedeutet noch lange nicht „Wechselmodell für alle“, ein Leitbild würde vielmehr bedeuten, dass man davon ausgeht, dass es der Bindung des Kindes an beide Eltern am ehesten entspricht, wenn es auch nach einer Trennung der Eltern als Paar weiter von beiden betreut und versorgt wird. Im Einzelfall müsste ein Elternteil, der das Wechselmodell nicht will, vor Gericht konkret darlegen, weshalb eine Wechselmodellbetreuung entweder praktisch nicht geht oder aus konkreten Gründen nicht mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Heute ist es umgekehrt: Eltern müssen darlegen, weshalb ausnahmsweise ein Wechselmodell besser wäre. Im Bemühen dieser Argumentation wird der andere Elternteil häufig herabgesetzt und diskreditiert, um sich selbst zu erhöhen und als den besseren Elternteil dazu stellen. Diese Denk- und Argumentationsweise, die häufig zu so genannter Hochstrittigkeit führt, ist in Ländern, in denen das Wechselmodell das Leitbild ist, beinahe nicht mehr anzutreffen. Dort werden Konflikte über die Betreuung zwischen den Eltern – wenn überhaupt – durch Mediation gelöst. Psychologische Gutachten braucht man dort nur noch in Fällen von Kindeswohlgefährdung. Wenn der Ausgangspunkt ist, dass beide Eltern betreuen und es konkret nur noch um die praktische Organisation geht, braucht man keine psychologischen Gutachten mehr, die feststellen, welcher von zwei wundervollen, engagierten, liebevollen Eltern der „bessere Elternteil“ ist, weil man davon ausgehen kann, dass beide Eltern ihr Kind lieben, es betreuen wollen und ihre Sache dabei gut machen.
3) Hochstrittige Eltern bedeuten laut überwiegender Rechtsprechung und Literatur eine starke Kontraindikation gegen Wechselmodell. Was bedeutet dies Ihrer Auffassung nach konkret für anwaltliche Strategien und die gerichtliche Praxis?
Der Begriff der „Hochstrittigkeit“ wird sehr inflationär gebraucht. Jedes Paar, das sich aktuell heftig streitet, wird als „hochstrittig“ abgestempelt, häufig geht damit die Einstellung einher, den Eltern wäre sowieso nicht zu helfen, ein „hoffnungsloser Fall“. Viele hocheskalierte Elternkonflikte, die als Hochstrittigkeit abgetan werden, sind aber nur Angstreaktionen von Eltern darauf, dass sie befürchten den Kontakt zu ihren Kindern ganz oder teilweise zu verlieren (häufig betrifft das die Väter). Auf der anderen Seite gibt es meist einen Elternteil (häufig sind dies die Mütter), der so beraten wird, dass er oder sie möglichst viele Konflikte mit dem anderen Elternteil provozieren muss, diese extra hochkochen lassen soll und dem Gericht vorlegen, um dann zu argumentieren das Kind müsste vor eben diesen Konflikten geschützt werden, indem es nur von einem Elternteil betreut wird. Leider ist diese Prozesstaktik weit verbreitet und führt auch sehr häufig zum Erfolg. Die Rechtsprechung, wonach bei hoch strittigen Eltern ein Wechselmodell nicht möglich wäre, hat keinerlei empirische Grundlage. Im Gegenteil. Die Wechselmodellforschung zu Hochstrittigkeit sagt nichts weiter aus, als dass es Kindern mit hochstrittigen Eltern sehr schlecht geht. Er sagt nichts darüber aus, ob es ihnen in der einen oder anderen Betreuungsform besser oder schlechter ging. Im Gegenteil, man kann annehmen, dass gerade in hochstrittigen Konstellationen die Kinder von einem gleichmäßigen Kontakt zu beiden Eltern profitieren können. Wenn sie von beiden Eltern betreut werden, gelingt es auch seltener, Kinder gegen den anderen Elternteil aufzuhetzen oder sie von ihm sogar nachhaltig zu entfremden. Manches vermeintlich hochstrittige Elternpaar wird sich wieder beruhigen, wenn klar geworden ist, dass keiner den anderen aus dem Leben des Kindes verbannen kann.
4) In Artikeln zum Thema Wechselmodell liest man häufig, dass dies nur etwas für reiche Eltern sei; also für den Großteil der Trennungsfamilien bereits aus Kostengründen undenkbar. Welche zusätzlichen Kosten fallen tatsächlich an und welche Einsparpotentiale sehen Sie beim Wechselmodell?
Das Wechselmodell ist in der Praxis eigentlich nicht teurer als das Residenzmodell. Die meisten Kinder, die einen Elternteil regelmäßig besuchen, haben bei diesem auch ein Kinderzimmer oder wenigstens einen Bereich in der Wohnung, wo ihr Bett steht, ein paar Spielsachen. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Im Residenzmodell haben Eltern (und Kinder) häufig ganz erhebliche Reise- und Unterkunftskosten, um ihr Kind zu sehen. Das entfällt im Wechselmodell, denn Voraussetzung ist, dass die Eltern so nahe beieinander leben, dass das Kind von beiden Eltern aus die Schule besuchen kann. Das spart Kosten. Auch Kosten für Fremdbetreuen können gespart werden, wenn jeder Elternteil nur die Hälfte der Zeit für die Betreuung zuständig ist, wird das Kind seltener eine Fremdbetreuung in Anspruch nehmen müssen. Ob man zusätzliche Kosten hat liegt vor allem an den individuell getroffenen Entscheidungen, wie viele Dinge man doppelt anschaffen kann oder möchte. Je weniger man doppelt kauft, desto größer der Koffer, aber auch Kinder im Residenzmodell reisen am Wochenendbesuch mit einem Köfferchen an. Dass man in der Praxis Wechselmodellbetreuung häufiger bei besserverdienenden Eltern antrifft hat also weniger mit den Kosten des Wechselmodells zu tun, als damit, dass besserverdienende Eltern meist in ihrer Arbeitszeitgestaltung flexibler sind. Entweder können sie in Teilzeit arbeiten und verdienen trotzdem genug Geld, um davon zu leben oder sie sind in ihrer Arbeitszeit flexibler: manchmal können Sie von zu Hause aus arbeiten, häufig haben sie flexible Arbeitszeiten, so dass sie in einer Woche mehr arbeiten können (wenn sie das Kind nicht betreuen) und in der anderen Woche weniger (wenn sie das Kind betreuen). Dies ist für Eltern in schlechterbezahlten Arbeitsverhältnissen oft nicht möglich. Es gibt jedoch staatliche Zuschüsse, zum Beispiel für Wohngeld, wenn Eltern im Wechselmodell betreuen.
5) Welche empirischen Studien gibt es zur Auswirkung des Wechselmodells auf die Kinder und welche zentralen Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten?
Es liegen inzwischen aus über 30 Jahren psychologischer Forschung empirische Studien zu den Auswirkungen des Wechselmodells auf Kinder vor (und übrigens auch auf ihre Eltern). Die zentralen Erkenntnisse sind, dass Kinder, die im Wechselmodell betreut werden, eine gleich enge Bindung an Mutter und Vater haben wie Kinder, die mit beiden Eltern zusammen leben. Da wir wissen, wie wichtig die Eltern-Kind-Bindung für die gesunde Entwicklung junger Menschen ist, ist das das wichtigste Argument pro Wechselmodell. Es gibt viele detaillierte Studien zu allen möglichen Fragen, die insgesamt darauf hindeuten, dass ein funktionierendes Wechselmodell Für Kinder, die nicht mit Mutter und Vater als Kernfamilie zusammenleben können, das beste Betreuungsmodell ist. Ob das dann auch im Einzelfall zutrifft, kann Empirie natürlich nicht beantworten. Es gibt auch Kinder im Wechselmodell die sehr unglücklich sind und Kinder im Residenzmodell, denen es sehr gut geht. Das Wechselmodell ist kein Allheilmittel im Scheidungsfall. Aber soweit man empirischen Studien folgen kann, ist das Wechselmodell vorteilhaft. Das ist eigentlich auch logisch, aus drei Gründen:
1. Alleinerziehende Elternteile, die berufstätig sind, sich um Haushalt und Kinder kümmern müssen, sind häufig überlastet. Dies kann zur Folge haben, dass die Kinder nicht nur den Elternteil verlieren, der nicht mehr bei ihnen leben, sondern auch einen zweiten wenig verfügbaren, häufig erschöpften und nicht sehr zugewandten Elternteil haben – so dass sie im Residenzmodell doppelt verlieren. Viele Eltern schildern das Wechselmodell als große Entlastung für sich selbst, weil sie auch „kinderfreie Zeiten“ haben, die sie für berufliche oder private Selbstverwirklichung nutzen können – oder einfach zur Erholung.
2. Eltern haben vielfältige Ressourcen für Ihre Kinder. Wenn Kinder von zwei Elternteilen (und deren Familien und Freundeskreisen) profitieren können, erhalten sie mehr davon.
3. Wenn Kinder erleben, dass sich beide Eltern liebevoll um sie kümmern, fühlen sie sich trotz Trennung /Scheidung weniger verlassen und ungeliebt. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl und macht sie resilient.
Auszug aus Matthäus/Lütkehaus „Umgang im Wechselmodell- Eine Familie zwei Zuhause“