Interview: drei Fragen an Annette Habert vom Flechtwerk 2+1

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Annette Habert hat mit ihrem gemeinnützigen Flechtwerk 2+1 ein über ganz Deutschland verteiltes Besuchsprogramm für weit anreisende Eltern aufgebaut.

Ich möchte von ihr wissen, wie Eltern und Kinder bei großen Entfernungen zwischen den beiden Wohnorten einen verlässlichen und qualitätsvollen Umgang leben können und wie die Familienhandwerker:innen vom Flechtwerk sie dabei unterstützen.

Vorab hier drei Fragen und bald ein ausführliches Gespräch in meinem Podcast.

Frage 1

Wie kamen Sie auf die Idee, Unterkünfte für umgangsberechtigte Eltern anzubieten?

Meine Schüler durften mir jede Woche am Freitagmittag am Lehrerparkplatz eine Hausaufgabe stellen, die ich zu lösen hatte. Meistens waren es philosophische Fragen von Kindern: “Woher weiß ein Küken eigentlich, wie es aus dem Ei herauskommt, wenn es das doch nirgendwo abgucken kann?“ Eines Tages aber wurde es dann sehr konkret. Auftraggeber für mein Start-up war damals ein neunjähriger Junge, der mich fragte: “Mein Vater schläft im Auto, wenn er mich besucht. Darum kommt er nur im Sommer. Kannst Du da was machen?” Die Vorstellung, dass ein Kind nach dem Papa-Tag im Kinderzimmer einschläft in dem Wissen, dass sein Vater draußen auf dem Parkplatz schläft, erschüttert mich noch heute. Und seine Erwartung an uns Erwachsene, dass es uns doch nicht egal sein kann, unter welchen Bedingungen er nun mit seinem Vater verbunden ist, bleibt bis heute mein Ansporn. Die Sorge des kleinen Sven ist ja kein Einzelfall. In kürzester Zeit meldeten sich weitere betroffene Eltern und auch engagierte potentielle Gastgeber bei mir. Zunächst organisierte ich alles vom Küchentisch aus. Aber Svens Geschichte weckte schnell das Interesse der Medien und so erreichten mich sowohl Anfragen anreisender Eltern als auch Gastgeberangebote aus der ganzen Bundesrepublik. Die Frage des kleinen Sven hat mir die Augen geöffnet für das Problem der bis heute übersehenen Zielgruppe multilokaler Nachtrennungsfamilien. Und ebenso berührend war, wie selbstverständlich Menschen ihr Herz und ihr Haus öffneten, um weit anreisende Eltern zu unterstützen. Und doch genügte es nicht, eine schnelle Notlösung für einige Familien zu finden.

Denn jedes Wochenende erfüllen unzählige anreisende Eltern trotz weiter Entfernungen den Rechtsanspruch ihres Kindes auf gesicherten Umgang entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention und dem deutschen Familienrecht. Nachhaltig ist unser Besuchsprogramm ja erst, wenn wir dabei das gesellschaftliche Systeme in den Blick nehmen, auf die Veränderung bestehender Paradigmen zielen und gesellschaftliche Lösungen für die Bindungssicherheit dieser multilokalen Nachtrennungsfamilien vorantreiben. Ich hatte gehofft, dass einer der etablierten Träger die Idee eines bundesweiten Besuchsprogrammes für anreisende Eltern umsetzt. Als sich niemand fand, habe ich mich entschieden, diese Lücke im etablierten Helfersystem zu ergänzen und gründete im Jahr 2008 ein gemeinnütziges Sozialunternehmen. Kinder sollen nach der Trennung unabhängig vom Kontostand ihrer Eltern und unabhängig von räumlichen Entfernungen sicher sein können: Mein Papa kommt. Meine Mama kommt. Elternliebe kennt keine Entfernungen.

Kinder sollen nach der Trennung unabhängig vom Kontostand ihrer Eltern und unabhängig von räumlichen Entfernungen sicher sein können: Mein Papa kommt. Meine Mama kommt. Elternliebe kennt keine Entfernungen.

Annette Habert

Frage 2

Was sind Ihrer Erfahrung nach die typischen und größten Herausforderungen multilokaler Nachtrennungsfamilien und welche Unterstützung bieten Sie an?

Mindestens 33.000 Kinder leben in Deutschland in fragilen, multilokalen Scheidungs-/Trennungs-familien mit einer einfachen Entfernung von mindestens 300 km (* OC&C Strategy Consultants 2017). Wenn zu einer Trennung auf Paarebene noch weite Entfernungen zwischen den Elternhäusern dazu kommen, droht, auf die Trennung vom Partner die Trennung vom Kind zu folgen. Die gesellschaftlichen Strukturen sind nur unzureichend auf multilokale Trennungsfamilien ausgerichtet, d.h. auf Familien, deren Eltern nach der Trennung an unterschiedlichen Orten wohnen. Die umgangsberechtigten Väter oder Mütter fahren monatlich und über Jahre mit Anreisen von 600km quer durch Deutschland zu ihren Kindern, um in einer völlig anderen Stadt für ein paar Stunden Lego zu spielen oder ihr Neugeborenes durch den Stadtpark zu tragen. Sie übernachten im Auto oder im Treppenhaus eines Hochhauses. Und selbst, wenn monatlich zum Kindesunterhalt und Reisekosten ein Hotelzimmer finanzierbar wäre: Wo halten sich anreisende Eltern dann eigentlich am Tage auf, wenn sie am Ort des Kindes kein Zuhause mehr haben? Am Sonntagmorgen im Waschsalon in Berlin Kreuzberg? Bei Regen mit einer Legokiste und Tagesticket in der Münchner U-Bahn? Zum Wickeln in den warmen Vorraum einer Sparkasse in Passau? Für viele ist das emotional und finanziell kaum zu schaffen. Zu viele Kinder wachsen deshalb bei weiten Entfernungen der Elternhäuser nach der Trennung als soziale Halbwaise heran oder erleben an den Umgangstagen ihren Vater oder ihre Mutter als temporär Wohnungslosen.

Wo halten sich anreisende Eltern dann eigentlich am Tage auf, wenn sie am Ort des Kindes kein Zuhause mehr haben? Am Sonntagmorgen im Waschsalon in Berlin Kreuzberg? Bei Regen mit einer Legokiste und Tagesticket in der Münchner U-Bahn? Zum Wickeln in den warmen Vorraum einer Sparkasse in Passau?

Annette Habert

Wie aber werden unter diesen Bedingungen aus zwei Elternhäusern zwei Zuhause? Auf welches praktische Erfahrungswissen können weit anreisende Eltern zurückgreifen, um eine qualitätsvolle Bindung zu ihrem Kind aufzubauen und mit zärtlicher Elternliebe an der Seite ihres Kindes zu bleiben? Wir sind so etwas wie das soziale AirBnB für Trennungseltern und vermitteln bundesweit Übernachtungsplätze bei ehrenamtlichen Gastgebern am Wohnort des Kindes. Ein Großteil unserer Gastgeber bietet außer einem Übernachtungsplatz einen Tagesaufenthalt an. Wir reservieren für jeden Umgangsberechtigten einen Gastgeber. Ein Großteil der Eltern ist dort monatlich und über Jahre willkommen! Vor allem die Kinder sollen ja Kontinuität und Verlässlichkeit erleben können. Wir nutzen am Wochenende zusätzlich die Ressource freistehender Räume in Kindergärten und Familienzentren. Die „Kinderzimmer auf Zeit“ sind konsumfreie kindgerechte Orte der Ruhe für einen einzelnen Vater / Mutter und das Kind.

Das große Geschenk an die Eltern ist nicht nur die monatliche Ersparnis von Hotelgebühren, was natürlich die Möglichkeiten zur Leistung des Kindesunterhaltes erhöht. Es geht vor allem aber um emotionale Ressourcenstärkung, die Vertrauensstärkung in gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Erfahrung von verlässlichem Verbundensein ausgerechnet während der Trennungsphase. Und die Kinder erleben ganz praktisch, dass es in ihrer Stadt Menschen gibt, für die ihr Vater / ihre Mutter vertrauenswürdig ist. Mit unseren Gastgebern ist der Umgang dann nicht mehr Rückkehr an den Ort von Schmerz und Verletzung, Verlust und ungewissem Abschied, sondern an den Ort familienunabhängiger Bindungserfahrungen im Sozialraum des Kindes und wertungsfreiem Rückhalt.

Eltern brauchen nicht nur Raumangebote am Sozialraum ihres Kindes, sondern auch Handlungsmuster, wie sie unter den Rahmenbedingungen von getrennter Elternschaft und einer elterlichen Fernbeziehung von 400km und mehr zum Kind trotzdem verlässliche Garanten für die Bindungssicherheit ihrer Kinder bleiben können. Fernbeziehungen sind eben kein Kinderspiel. In unseren pädagogischen Elternbriefen vermitteln wir pädagogisches Hintergrundwissen und geben ganz konkrete pragmatische Anregungen zur qualitätsvollen Umgangsgestaltung. Zusätzlich gibt es Audiodateien, die die Eltern auf dem Weg zum Kind oder auf der Autofahrt in die Arbeit anhören können. Monatliche digitale Elternabende orientieren sich an den Phasen einer konstruktiven Trennungsverarbeitung und dienen dem Erfahrungsaustausch. Anreisende Eltern sind sonst häufig kaum im Austausch mit anderen vom Kind getrenntlebenden Eltern und schätzen die Suche nach einem konstruktiven Umgang mit der Familienbiographie sehr. Jede Familie geht ihren eigenen Weg und braucht ihre eigenen Lösungen. Wir bieten eine individuelle pädagogische Einzelberatung an.

Pädagogische Angebote werden ergänzt durch ein Coaching-Angebot. Für die Dauer von drei Monaten bieten wir den Eltern ein wöchentliches kostenbefreites Coaching in Selbstfürsorge, Selbstwahrnehmung und Selbstverantwortung an. Dabei greifen wir zurück auf 30 professionelle Coaches und Supervisoren, die sich ehrenamtlich für die Eltern engagieren. Die Kinder brauchen ja Eltern, die auch gut für sich selber sorgen. Erstrecht, wenn diese Eltern am eigenen Wohnort als regelmäßig verreisende Alleinlebende und im Sozialraum ihres Kindes als wohnungslose Besucher wahrgenommen werden.

Jugendämter, Beratungsstellen, Familiengerichte und -anwälte sind wichtige Multiplikatoren. Rund 70 % der Eltern, die sich bei uns melden, werden von diesen Fachkräften an uns weiterempfohlen. Die restlichen 30 % finden uns über die Soziale Medien oder das Internet. Wir halten regelmäßig kostenfreie Infoveranstaltungen für Fachkräfte ab, um sie über unsere Entwicklung und unsere Arbeit zu informieren. Eine Anmeldung ist über unsere Website möglich.

Frage 3

Wie wird Ihr Angebot finanziert?

Multilokale Trennungsfamilien finden in der Öffentlichkeit wenig Beachtung. Wir sorgen seit Jahren dafür, dass der Rechtsanspruch des Kindes auf qualitätsvollen und bindungsorientierten Umgang auch bei weiten Entfernungen und unabhängig vom Kontostand der Eltern umgesetzt wird. Das Recht von Kindern auf beide Eltern ist im deutschen Familienrecht und gemäß UN-Kinderrechtskonvention Art. 9 immerhin ein wesentlicher Bestand des Kindeswohl.

Als anerkannter Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe füllen wir über ehrenamtliche Strukturen eine anerkannte Versorgungslücke und haben damit bundesweit Alleinstellungsmerkmal. Das Bundesfamilienministerium und die Stadt München haben dies erkannt. Sie finanzieren derzeit zu 65 % unsere laufenden Kosten. Der Umgangsberechtigte beteiligt sich mit einem monatlichen Elternbeitrag von 15€ an unseren Kosten. Eine förderberechtigte Mitgliedschaft mit einem Sozialplatz ist möglich. Die restlichen Mittel akquirieren wir über Spenden. Es gibt auch anreisende Eltern mit stabilen Finanzressourcen, die uns zusätzlich zum Elternbeitrag etwas spenden. Unser Angebot ist extrem niedrigschwellig und kann monatlich gekündigt werden. Der erste Monat ist beitragsfrei, der Gastgeber wird bereits vermittelt und die Pädagogische Beratung angeboten.

Trennungsgeschichten sind kein leichter Lesestoff. Wir aber können dank unserer Ehrenamtlichen unzählige berührende Geschichten teilen, die von einem konstruktiven Umgang mit der Endlichkeit von Beziehungen und von gesellschaftlichem Zusammenhalt erzählen. Die wichtigste Ressource unserer gemeinnützigen Arbeit sind also unsere 2.100 ehrenamtlichen Gastgeber, die bisher über 1.700 Vermittlungen und rund 22.000 Eltern-Kind-Kontakte ermöglicht haben. Überall, wo Kinder leben, suchen wir weitere Gastgeber. Ein einfacher Schlafplatz und ein Morgenkaffee genügt. Auf unserer Website kann man sich unverbindlich anmelden. In einem persönlichen Telefonat besprechen wir den Rahmen der Gastfreundschaft.

Wir arbeiten gemeinnützig. Aber natürlich wollen wir Profit machen. Bei uns geht es um Social Profit. Weil die Bindungssicherheit von Kindern systemrelevant ist.