Ich möchte mir selbst nicht vorwerfen, ich hätte zu wenig getan.
Dieser Satz begegnet mir häufig in meinen Trauersprechstunden zum Thema (noch) nicht erfüllter Kinderwunsch.
Jeder Mensch hat seine Geschichte, jeder entwickelt im Laufe seines Lebens bestimmte innere Überzeugungen und „Regeln“, die es einzuhalten gilt: mit Disziplin die Ziele erreichen, sich einsetzen, keine Pausen machen, weitermachen … Und die Gesellschaft gibt auch das ihre dazu: Das Leben als Familie wird erst perfekt mit einem Kind – oder mit zwei Kindern.
Die Medizin macht heute soviel möglich. Das ist wunderbar auf der einen Seite und setzt aber auch unglaublich unter Druck auf der anderen. Jeder und jede hat da ihre eigenen Werte und Vorstellungen und Erfahrungen. Und die eigenen Grenzen.
Wann habe ich, wann haben wir genug getan? Wir haben schon so viel investiert an Zeit, Emotionen, Geld, wir machen weiter. Ich mache weiter.
Und wenn das alles doch nicht klappt, dann bin ich eben selbst schuld – oder mein Partner, meine Partnerin. Ich habe nicht fest genug daran geglaubt. Ich habe mich nicht gesund genug ernährt. Ich habe nicht auch noch diese oder jene Therapie versucht… und und und.
Aus dieser großen Ohnmacht und Hilflosigkeit heraus konstruieren wir Beschuldigungsszenarien. On top schämen wir uns. Wir haben es nicht geschafft. Wir sind unendlich traurig und fühlen uns allein und verlassen. Wir wenden uns ab von all denen, die „es geschafft“ haben, die diesen Plan A, eine „normale“ Familie zu sein, umsetzen konnten. Wir gehören nicht mehr dazu.
Das ist eine unendliche Spirale in der wir uns dann befinden. Was ist da hilfreich?
„Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was in dir ist, deine Rettung sein.
Wenn du das, was in dir ist, nicht hervorbringst, wird das, was in dir ist, dich vernichten.
C.G. Jung
Aus meiner Erfahrung heraus ist der erste Schritt sich selbst wahrzunehmen, die eigenen Gefühle und Gedanken wirklich anzusehen. Mit einem möglichst neutralen, wenn nicht sogar liebevollen Blick – wie wenn ich auf meine beste Freundin oder Freund sehe. Nimm Dir dazu Zeit in Stille für Dich.
Was für Gefühle sind da? Wie fühlen die sich an? Kann ich sie im Körper fühlen? Hat das Gefühl eine Farbe, eine bestimmte Form? Verändert es sich von Tag zu Tag? Es gehört zu mir, das ist ein Teil von mir. Welche Gedanken tauchen immer und immer wieder auf? Ich darf mir selbst mit all den eigenen Beschuldigungen und anderen negativen Gefühlen und Gedanken wieder begegnen. Vielleicht schreibe ich das in einem Tagebuch auf oder ich teile mich einem guten Freund mit.
Und ich darf mich anderen zuMUTen. Ja, das braucht Mut. Aber den hast Du. Du bist schon so viele mutige Schritte auf diesem Weg gegangen. Auch Orte, an denen Du Menschen mit ähnlichen Erfahrungen triffst können hilfreich und ermutigend sein. In meiner Trauersprechstunde bei familyship erfahre ich das am Ende der Stunden immer wieder, dass es wahnsinnig guttut sich wieder mit anderen Menschen verbunden zu fühlen.
Der nächste Schritt könnte sein, sich selbst aus den Vergleichen mit den anderen herauszunehmen. Wirklich auf die eigenen inneren Stimmen zu lauschen und immer weniger den Stimmen von außen, die oft viele gutgemeinte, aber nicht wohltuende Ratschläge haben. Keine*r außer Dir selbst kann beurteilen, was Dir jetzt guttut und welche Deine Ressourcen sind.
Und: es gibt nicht nur einen Plan A oder einen Plan B, es gibt auch unendlich viele weitere Pläne. Das Leben ist so vielfältig.
Und: es ist völlig ok, wenn ich mich mit weiteren Möglichkeiten auseinandersetze, wie ich Mutter oder Vater werden kann.
Und: es ist völlig ok, mich vom Kinderwunsch zu verabschieden und kein Kind zu haben.
Und: es ist völlig ok, dies alles jetzt nicht zu wissen und Zeit zu brauchen.
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Claudia Collin ist Trauerbegleiterin und Achtsamkeitstrainerin in München und am Ammersee, und bei der Kinderwunsch Community familyship als Expertin tätig.
Claudia Collin
Tiefblau Trauerbegleitung