Buchbesprechung: »Du wirst noch an mich denken« von Dorothee Röhrig

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Dorothee Röhrig stammt aus einer historisch bedeutsamen deutschen Familie, die im dritten Reich maßgeblich am Widerstand gegen Adolf Hitler beteiligt war. Ihre Mutter war die ältere Schwester von Klaus und Christoph von Dohnanyi, ihre Großeltern sind Hans und Christine von Dohnanyi, geborene Bonhoeffer. Hans von Dohnanyi und sein Schwager Dietrich Bonhoeffer wurden 1945 hingerichtet, Christine von Dohnanyi wurde damals verhaftet und verbrachte vier Wochen im Gefängnis. Die Mutter von Dorothee Röhrig war 16 Jahre alt, als sie von der Schule nach Hause kam und ihre Eltern verschwunden sind, weil von der Gestapo verhaftet, und 18 Jahre alt, als ihr Vater hingerichtet wurde.

„Wir sind anders als die anderen. Man muss nicht so sein wie alle“. Ich kenne ihre Bemerkung schon, bevor sie den Mund aufmacht. Und kann sie nicht mehr hören.

Dorothee Röhrig, S. 69

Diese besondere Familie lernen wir nun von innen heraus kennen, aus der subjektiven Perspektive der Autorin. Der persönliche Blick auf die eigene Mutter, aber auch die kindlichen Erinnerungen an die berühmte Großmutter Christine von Dohnanyi sind enorm interessant zu lesen, wenn man sich für Familien, aber auch wenn man sich für unsere deutsche Geschichte und deren Auswirkungen auf die Menschen interessiert.

Nach dem Tod ihrer Mutter findet Dorothee Röhrig ein Foto, das sie als Kind mit ihrer Mutter zeigt, abgebildet auf dem Buchcover. Das Bild löst zahlreiche Erinnerungen an die eigene Kindheit aus, die sie in dem Buch mit uns teilt, sowie grundlegende Überlegungen, die über die Familie von Dohnanyi / Bonhoeffer hinaus viele Kriegs- und Nachkriegsfamilien betrifft.

Meine Mutter hat mich im Griff. Wie auf dem Foto von uns beiden. Sie hält mich fest und scheint sich im selben Moment an mich zu klammern, so verstehe ich plötzlich unser Bild. Beim Halten Halt suchen. Ist das der Kern unserer Verbundenheit? Ihr Glück mit mir?

Dorothee Röhrig, S. 76

Sie fragt sich, was Gewalt, Angst und Trauer mit Menschen, mit Familien machen; bei ihrer Mutter konkret die Inhaftierung beider Eltern, der frühe und gewaltvolle Tod des Vaters, der Krieg sowie zahlreiche hartnäckige Krankheiten und mehrere Fehlgeburten.

„Traurigkeit verschließt ja die Menschen, weil sie so viel mit sich zu tun haben“. Mir fallen die Worte von Edda ein. Sie beschreiben für mich die Gemütslage meiner Mutter, meiner Großmutter und vieler Familienmitglieder. Das Schwere ist immer anwesend, bis heute. Nicht greifbar, aber spürbar. Wir können nicht harmlos vergnügt oder einfach nur liebevoll miteinander sein. Vielleicht mit Freunden oder Fremden. In der Familie nicht.

Dorothee Röhrig, S. 43f

Dorothee Röhrig war als Kind brav und angepasst, „einfacher“ als die männlichen Kinder in ihrer Familie; der jüngere Bruder Christoph sowie ihr Cousin Johannes, dessen Mutter früh verstarb und der bei der Familie wohnt. Und ständig ist eine der beiden Großmütter da, die recht unterschiedlich sind und das Kind jeweils auf ihre Art stark prägen. Allem voran die berühmte Großmutter mütterlicherseits, die eine sehr enge Beziehung zu ihrer Tochter, Dorothee Röhrigs Mutter, pflegte. Großmama hat keine eigene Wohnung und lebt immer wieder für mehrere Monate hinweg bei der Familie. Sie ist zugewandt und fürsorglich, aber auch fordernd und enorm diszipliniert.

„Leg es zum Übrigen“. Das sagte Großmama jedes Mal, wenn Erwartungen nicht erfüllt wurden und Enttäuschungen ertragen werden mussten. Leg es zum Übrigen – ein geflügeltes Wort, das meine Mutter übernimmt und immer wieder benutzt. Wo versteckt sich das „Übrige“, das Sammelbecken für Traurigkeit, Frustration, Ernüchterung? Wann machen sich diese Gefühle Luft? Was bleibt vom „Übrigen“ übrig?

Dorothee Röhrig, S. 68f

Die Erinnerungen von Dorothee Röhrig habe ich wirklich gern gelesen, innerhalb von nur wenigen Tagen; das Buch klar und flüssig geschrieben und lässt einen nicht mehr los. Ein kluger, einfühlsamer Blick auf die eigene Kindheit in einer berühmten deutschen Familie, über das Miteinander der Generationen, über deren gemeinsames Leben und Überleben in der Nachkriegszeit.

Emotional, ehrlich und berührend geschrieben aus der Sicht der erst jungen, dann heranwachsenden Dorothee Röhrig. Interessant für Menschen, die selbst diese Zeit noch erlebt haben. Doch ebenso für Jüngere, denen unsere Geschichte der letzten Jahrzehnte und deren Auswirkungen auf die Menschen nicht mehr von eigenen Familienangehörigen erzählt werden kann. Ein schönes Geschenk, generationsübergreifend lesenswert.

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Dorothee Röhrig
Du wirst noch an mich denken – Liebeserklärung an eine schwierige Mutter

ISBN: 978-3-423-29044-9
dtv