Interview: drei Fragen an Dr. Stefan Rücker zu Umgang und Kindeswohl

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Diplom-Psychologe und Kindeswohl-Experte Dr. Stefan Rücker war am 09. Juni 2023 bei uns im Podcast zu Gast und sprach mit Isabell Lütkehaus über die verschiedenen Umgangsmodelle nach einer Trennung sowie über das Wohl von Kindern getrennter Eltern. Die Folge kann weiterhin im Podcast-Archiv von Familie bleiben gehört werden – sowie überall, wo es Podcasts gibt.

Für den Blog beantwortet er uns drei kurze Fragen zum Umgang und Kindeswohl nach der Trennung der Eltern.

Frage 1

Welche Umgangsmodelle unterscheiden Sie? Was spricht für, was gegen das jeweilige Modell?

Nach Trennung oder Scheidung gibt es unterschiedliche Betreuungsarrangements. Die noch immer klassische, und damit auch die bekannteste Form der Betreuung bildet das Residenzmodell. Hierbei werden die Kinder hauptsächlich von einem Elternteil betreut, der andere Elternteil betreut turnusmäßig in der Regel alle zwei Wochen.

Betreuungsarrangements befinden sich aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen jedoch im Wandel und seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass Eltern vermehrt zu einer geteilten Betreuung ihrer Kinder übergehen. In diesem Zusammenhang wird vom so genannten Wechselmodell gesprochen. Hierbei haben die Kinder zwei zu Hause und wechseln meist im Wochenrhythmus zwischen Mutter und Vater.

Eine Sonderform des Wechselmodells bildet das Nestmodell. Nach der Trennung der Eltern bleiben die Kinder in ihrem angestammten Haushalt (im Nest), und die Elternteile wechseln turnusmäßig. Das kann bedeuten, dass beispielsweise die Mutter fünf Tage mit den Kindern in diesem Haushalt lebt, dann vom Vater abgewechselt wird und so weiter.

In Studien sehen wir, dass das Wechselmodell vor allem von Familien mit guter Bildungsqualifikation und höherem Einkommen favorisiert wird. Die Betrachtung ist jedoch unvollständig, da manchmal auch Familien mit geringerem Einkommen das Wechselmodell realisieren möchten, dies aber an fehlenden wirtschaftlichen Grundlagen scheitert. Vor allem dort, wo es um mehrere Kinder geht, und wo Familien in Stadtrandlage, oder in der Stadt leben. Jenseits dessen hat sich vor allem in Studien im deutschsprachigen Raum kein Betreuungsarrangement als das beste herausgestellt. Das Beste für Kinder ist so individuell wie ein Fingerabdruck, und welches Betreuungsarrangement sich am ehesten empfiehlt, sollte immer auf Grundlage der individuellen familiären Umstände herausgefunden werden.

Klar ist auch, dass sich an der Frage nach dem besten Betreuungsarrangement nach Trennung oder Scheidung häufig massive Konflikte entzünden. Für das Wohl der Kinder ist folglich wünschenswert, wenn Eltern diese Frage möglichst konfliktarm beantworten und zusätzlich bereit sind, Kompromisse einzugehen.

Frage 2

Woran erkennen Eltern, dass ein Modell gut für ihre Kinder ist, aber auch für sie selbst passend?

Trennungen sind in der Regel hoch-emotionale Lebensereignisse, und so wird die Frage nach dem passenden Betreuungsarrangement in Familien vor allem nach dem subjektiven Gefühl verhandelt. Ideal ist, wenn alle die gleichen Vorstellungen haben und sich in dem angestrebten Betreuungsarrangement wohlfühlen.

Vielfach bestehen zwischen Elternteilen jedoch unterschiedliche Vorstellungen darüber, welcher Elternteil die gemeinsamen Kinder zukünftig zu welchen Anteilen betreut. Eltern in einer solchen Situation sollten frühzeitig Hilfestellungen/Beratung in Anspruch nehmen.

Ideal für ein Wechselmodell beispielsweise erweist sich eine geringe geographische Distanz zwischen den Haushalten der beiden Elternteile. Größere Distanzen dagegen stellen sich als hürdenreich dar und führen zu logistischen Belastungen auch für die Kinder. Ein Residenzmodell ist seltener dann zu empfehlen, wenn damit ein hohes Maß an Fremdbetreuung der Kinder verbunden ist, während sie im Wechselmodell möglicherweise überwiegend von einem Elternteil betreut werden können. Ein Nestmodell kann dort Schwierigkeiten aufwerfen, wo beide Elternteile neue Familien gründen, oder wo die materiellen Grundlagen für die Finanzierung von in der Regel drei Haushalten fehlen, und dies zu einer Verschuldung führt.

Frage 3

Unklar ist nach einer Trennung auch, wie die Kinder mit den Umbrüchen sowie der neuen Familiensituation umgehen werden, weil es ja neuartig für alle Beteiligten ist; und eben auch für die Kinder. Inwieweit würden Sie empfehlen, Kinder in die Entscheidungsfindung einzubeziehen?

Nahezu jedes Kind bildet angesichts der elterlichen Trennung zunächst Belastungen aus. Diese Belastungen reduzieren sich jedoch im Verlauf, wenn Eltern einige wesentliche Punkte berücksichtigen. Trivial, oft übersehen, aber sehr hilfreich ist, wenn Eltern vor allem ihren jüngeren Kindern vermitteln, dass sie nicht schuld an der Trennung der Eltern tragen (vor allem jüngere Kinder neigen dazu, Schuldanteile für die Trennung an sich selbst zu adressieren). Den Kindern muss versichert werden, dass beide Elternteile erhalten bleiben. Es geht also vor allem darum, Sicherheitssignale zu senden. Günstig wäre auch, wenn das Umfeld erhalten bleibt, und die Kinder beispielsweise nicht die Nachbarschaft, Kita oder Schule wechseln müssen, sondern die vertraute Umgebung weiterbesteht.

Unsere eigenen Studien zeigen zudem, dass die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern in Trennungskontexten besonders positiv verläuft und auch mit der höchsten Zufriedenheit der Kinder einhergeht, wenn man sie an der Frage nach dem künftigen Betreuungsarrangement beteiligt. Hierbei entscheiden Alter und Entwicklungsstand der Kinder, in welchem „Setting“ die Wünsche der Kinder exploriert werden (mit jüngeren Kindern spielerisch und behutsam ermitteln, wie sie künftig von Mutter und Vater betreut werden möchten; mit älteren Kindern ein offenes Gespräch führen). Ein wichtiges Erfordernis hierbei ist, Kinder nicht in Loyalitätsschwierigkeiten zu bringen. Vermieden werden sollten folglich Fragen à la „wen hast du lieber, Mama oder Papa?“; „mit wem möchtest du mehr Zeit verbringen?“…

Bei sieben von zehn Kindern kleiden die Eltern die Auflösung der Partnerschaft so aus, dass die trennungsbezogenen Belastungen auf Seiten der Kinder wieder abnehmen. Bei 30 % jedoch kommt es zu so konflikthaften Auseinandersetzungen, dass die Kinder dauerhafte Belastungen entwickeln. Wenn Eltern bemerken, dass sie im Kontext von Trennung oder Scheidung in den Hochkonfliktbereich abgleiten, sollten sie zum Wohl ihrer Kinder zügig Hilfestellungen in Anspruch nehmen.

Vielen Dank für Ihre Antworten – ich freue mich auf unseren weiteren Austausch ab Herbst 2023!

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Podcast-Folge mit Dr. Stefan Rücker über Umgangsmodelle und Kindeswohl