Buchbesprechung: „Unser Kind hat zwei Zuhause“ von Milena Mergell & Thomas Baum

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Mehr „Familie bleiben“ ist nach einer Trennung der Eltern wohl kaum vorstellbar: Familien-Frühstück am Wochenende, gemeinsame Urlaube und Familienfeiern, Unterstützung bei Umzügen und Gartenarbeit und vieles mehr: die Eltern von Minou schildern in diesem gemeinsamen Erfahrungsbericht ehrlich und persönlich ihre ganz besondere Eltern-Freundschaft und Familiengeschichte; leicht zu lesen, sehr unterhaltsam und informativ – ein wirkliches Mutmach-Buch!

Ich war direkt angetan, als ich beim ersten Aufschlagen des Buches den Text im vorderen Umschlag entdeckte, der drei zentrale Aspekte aufzählt, die zu dem harmonischen Miteinander der Eltern Mergell/Baum nach ihrer Trennung geführt haben: (1) respektvoller und wertschätzender Umgang miteinander, (2) regelmäßige gemeinsame Familienzeit und (3) sich bewusst zurücknehmen und dem anderen Raum belassen. Das klingt nicht nur auf dem Papier enorm sinnvoll, sondern leben die beiden auch erkennbar vor, wie sie im Buch sehr anschaulich schildern.

Unabhängig davon kann das, wie die beiden selbst anmerken, so ohne weitere nicht für alle getrennten Familien passen. Denn für viele ehemalige Partner:innen ist respektvoller und wertschätzender Umgang miteinander direkt nach einer ggf. schmerzhaften Trennung zunächst schwer vorstellbar. Und gemeinsame Familienrituale machen vor allem dann Sinn, wenn alle Beteiligten sich dabei wohl fühlen, wenn die Stimmung leicht und gelöst ist. Sich in Erziehungsfragen zurückzunehmen und dem anderen Raum zu lassen für eigenen Ansichten kann ich allerdings Eltern generell sehr ans Herz legen und könnten alle zumindest sukzessive mehr versuchen zuzulassen. Es bedeutet ein nicht selten schmerzhafter Prozess der Umgewöhnung insbesondere für denjenigen Elternteil, der sich vor der Trennung überwiegend und hauptverantwortlich um den Nachwuchs kümmerte.

Milena Mergell und Thomas Baum bemerken an zahlreichen Stellen im Buch selbst, dass sie in vielerlei Hinsicht eine sehr günstige Ausgangssituation hatten. Beide erlebten das Ende ihrer Beziehung als sauber und fair, ohne Lügen und Fremdgehen, und waren zwar traurig, aber die Welt ging für sie mit der Trennung nicht unter. Und in vielen zentralen Familien- und Erziehungsfragen scheinen sie sich einig zu sein bzw. die andere Meinung respektieren zu können. Auch keine Selbstverständlichkeit, weder bei getrennten Eltern noch bei Eltern, die zusammen leben. Im bereits geplanten Interview werde ich die beiden fragen, wann der respektvolle und wertschätzende Umgang dann doch mal auf der Kippe stand und wie sie solche herausfordernden Situationen jeweils für sich, aber auch gemeinsam lösen konnten.

Das Buch startet mit einer Übersicht zu den möglichen Umgangsmodellen und erläutert ausführlich, aus welchen Gründen die beiden sich für das Wechselmodell entschieden haben. Erneut eine günstige Ausgangssituation, nicht nur dass sich die beiden in der Wahl des Modells direkt einig waren, sondern auch, dass der Vater bereits vor der Trennung im Alltag sehr viel Zeit mit der gemeinsamen Tochter verbracht hatte und durch Arbeit im Home Office sich auch tagsüber gut kümmern konnte und weiterhin kann. Bei allem Streben nach Gleichberechtigung immer noch eher die Ausnahme, wenn auch zunehmend häufiger anzutreffen. Interessant und besonders ist auch die gewählte Ausgestaltung des Wechselmodells mit täglichen Wechseln und meist über Institutionen (Kita/Kindergarten/Schule). Weil es für die Tochter einfacher zu sein scheint, wenn sie sich nicht direkt von einem Elternteil vor dem anderen Elternteil verabschieden muss. Dies zeigt, dass es kein pauschales richtig oder falsch gibt, sondern höchstens Richtwerte und Gedanken als erste Orientierungshilfen, letztlich aber die individuellen Umstände und die Persönlichkeit des Kindes entscheidend sind und manches eben auch eine Zeit lang ausprobiert werden sollte. Seltene Wechsel mit persönliche Übergaben sind nicht für alle Familien ideal – entscheidend ist, was zum individuellen Familienalltag passt, womit die Kinder am besten klar kommen und was die Eltern gut in ihr Alltagsleben einbauen können.

Finanzen werden ebenfalls angesprochen, aber auch hier ist die Situation eher ungewöhnlich vorteilhaft – beide Eltern sind in Vollzeit berufstätig und finanziell solide aufgestellt. Es werden in diesem Buch aber auch größere Kompromisse beschrieben, so z.B. bei der Wahl des Wohnortes. Auf den Wegzug eines Elternteils, der viele Familien vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellt, wird zum Wohle der Familie bewusst verzichtet, vielmehr bleiben beide nah beinander wohnen, damit das Wechselmodell im Alltag gut umsetzbar ist.

Sehr schön finde ich, dass die jeweiligen Herkunftsfamilien weiterhin in das Familienleben einbezogen bleiben, insbesondere die Mutter von Frau Mergell. So ist sie jedes Jahr an Weihnachten bei Herrn Baum eingeladen und verbringt die Geburtstage ihrer Enkelin gemeinsam mit der Familie. Bei vielen Trennungen verlieren sich nicht nur das getrennte Paar, sondern geht auch die gesamte „Schwieger-Familie“ verloren, und oft auch ehemals gemeinsame Freund:innen. All das gelang Milena Mergell und Thomas Baum zu vermeiden, wozu man die beiden nur beglückwünschen kann, ebenso zum liebevollen Kontakt zu den drei weiteren Kindern von Herrn Baum aus vorigen Beziehungen, für Minou aber auch für Frau Mergell. Nur gratulieren kann man den beiden auch dazu, wie entspannt und souverän sie mit neuen Partner:innen umgehen. Sobald erkennbar ist, dass eine neue Beziehung sich zu etwas Ernsthafteren entwickelt, werden die Neuen dem anderem (und dem Kind) beim Wochenend-Frühstück vorgestellt. Das schafft Transparenz, behält den Fokus beim Kind und der gemeinsamen Elternschaft, zeigt wie zentral die Familie auch bei personellen Veränderungen im Mittelpunkt bestehen bleibt; schafft dadurch dem anderen Elternteil Sicherheit und stärkt somit das gegenseitige Vertrauen.

Als Fazit lässt sich wieder einmal festhalten, dass vor allem das „WIE“ entscheidend ist, wie man sich trennt, wie man das passende Umgangsmodell findet, wie man als Eltern-Team kommuniziert und kooperiert. Stets mit dem Wohl des Kindes im Zentrum der Überlegungen und Handlungen, sowie mit ganz viel Selbstreflexion, Pragmatismus und Toleranz. Und mit klaren Abwägungen darüber, was wirklich zentral und wichtig ist und geklärt werden muss, welche rote Linien es gibt, die nicht verhandelbar sind, aber auch wo Gegensätze stehen gelassen und akzeptiert werden können, zum Wohl des Kindes, zum höheren Ziel des Erhalts der Familie und nicht zuletzt zur Schonung der eigenen Nerven. Ein großes Glück, wenn beide das so sehen und umsetzen können!

Sehr schön finde ich, dass es im Buch neben gemeinsamen Texten immer wieder längere Passagen gibt, in denen jeder Elternteil die eigene Familiengeschichte sowie die persönliche Sichtweise zu den familiären Entwicklungen und Themen darstellt. Das erweitert den Blick bei der Lektüre und fügt sich durch das differenzierte Erleben von Vater und Mutter zu einem großen Ganzen zusammen. Und macht erneut deutlich, dass man nicht überall derselben Meinung sein und nicht alles genauso wie der andere Elternteil machen muss, damit es dem Kind gut geht und man als Eltern-Team funktioniert.

Am Rande bemerkt noch eine lustige Beobachtung: Innen erinnert mich das Buch sehr an unseren Ratgeber „Umgang im Wechselmodell“, was ich insofern bemerkenswert finde, als ich selbst nie auf die Idee käme, eine orangefarbene Schrift zu wählen – bei uns hat das der C.H. Beck Verlag entschieden und nun gibt es also schon zwei Bücher mit diesem eher ungewöhnlichen Look. Die Schrift ist allerdings größer als bei uns und dadurch deutlich besser lesbar, wie ich finde.

Insgesamt ein wunderbar positives Buch, das anderen Eltern konkrete Wege zum Erhalt der Familie und zum Aufbau einer Eltern-Freundschaft aufzeigt, gleichzeitig aber auch sehr positive Eckdaten mit sich bringt. Teilweise bestimmt aufgrund einer glücklichen Ausgangssituation, aber ganz Vieles gemeinsam erarbeitet durch Selbstreflexion, Toleranz und kontinuierlichen Austausch. Eine unterhaltsame und informative Inspiration für andere Eltern, die nach ihrer Trennung als Familie einen kooperativen und freundschaftlichen Weg gehen wollen, vor allem im Wechselmodell, letztlich aber auch übertragbar auf andere Umgangsmodelle, an denen beide Elternteile aktiv teilhaben und mitwirken.

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Milena Mergell und Thomas Baum
Unser Kind hat zwei Zuhause: Was wir durch ein getrenntes Familienleben über uns selbst gelernt haben.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Komplett Media GmbH; 1. Edition (2. August 2022)
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 383120585X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3831205851