Buchbesprechung: Long Island von Colm Tóibín

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Heute möchte ich eine etwas leichtere Lektüre vorstellen, die ich diesen Sommer sehr gern gelesen habe: »Long Island« vom irischen Autoren Colm Tóibín.

Einige kennen Colm Tóibín ja vielleicht bereits durch seinen Weltbeststeller »Brooklyn«, der aufwändig verfilmt wurde, mit Saoirse Ronan in der Hauptrolle der Eilis Lacey.

»Long Island« knüpft daran an; seit dem Ende von »Brooklyn« sind zwei Jahrzehnte vergangen und erneut steht Eilis Lacey im Zentrum der Geschichte. Sie ist seit nunmehr zwanzig Jahren mit Tony verheiratet, der als Klempner arbeitet, die beiden haben zwei fast erwachsene Kinder und leben in räumlicher Nähe der italienischen Großfamilie von Tony, dessen Eltern und Geschwistern, auf dem Familiengrundstück in Long Island. Und zunächst scheint alles in Ordnung zu sein.

Doch was dann passiert, finde ich als Ausgangspunkt für einen Roman spannend und ungewöhnlich: Ein fremder Mann klingelt und erzählt Eilis, dass seine Frau ein Verhältnis mit Tony hat und von ihm schwanger ist. Er und seine Frau werden das Kind nicht großziehen, sondern nach der Geburt bei Tony und Eilis vor die Türe stellen.

»Sie sind die Frau vom Klempner?«
Da die Frage barsch klang, sah sie keinen Grund zu antworten. »Er versteht sein Geschäft, Ihr Mann. Ich wette, er ist sehr gefragt.«
Er hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte. »Bei uns zu Haus hat er alles perfekt erledigt«, sagte er weiter und zeigte mit einem Finger auf sie, »er hat sogar etwas mehr gemacht als vereinbart. Ja, er ist regelmäßig wiedergekommen, wenn er wusste, dass die Frau im Haus sein würde und ich nicht. Und er ist so gut im Rohrverlegen, dass sie im August ein Kind von ihm kriegt.«
Er trat einen Schritt zurück und quittierte ihre ungläubige Miene mit einem breiten Grinsen. »Genau. Deswegen bin ich hier. Und ich kann Ihnen schriftlich geben, dass ich nicht der Vater bin. Ich hatte nichts damit zu tun. Aber ich bin mit der Frau verheiratet, die dieses Kind kriegt, und falls einer glaubt, ich würde das Balg eines italienischen Klempners in mein Haus aufnehmen und würde mir anhören, wie es mitten in der Nacht plärrt, und meine Kinder glauben lassen, es wäre auf genauso anständige Weise auf die Welt gekommen wie sie, dann hat er sich geschnitten!«
Er streckte ihr wieder einen Finger entgegen.
»Sobald dieses Hurenbalg also da ist, nehme ich es und liefere es hier ab. Und wenn Sie dann nicht zu Hause sind, dann drücke ich es dieser anderen Frau in die Hand. Und wenn überhaupt keiner da ist, in keinem eurer Häuser, dann lege ich es genau hier vor Ihrer Tür ab.«

Er trat ein paar Schritte näher und senkte die Stimme.
»Und Ihrem Mann können Sie von mir ausrichten, wenn er sich je wieder in der Nähe meines Hauses blicken lässt, geh ich mit einer Brechstange auf ihn los, die ich parat habe. Haben Sie das verstanden?«

Tonys Mutter entscheidet daraufhin, dass sie das Kind großziehen wird – wie Eilis das findet, scheint niemanden zu interessieren. Daraufhin fährt Eilis zu ihrer Mutter nach Irland, wo sie seit 20 Jahren nicht mehr war, und trifft natürlich Jim (aus »Brooklyn«) wieder, usw.

Da ich schon sehr lange nicht mehr in kleinen Städten und noch nie in einem Dorf gelebt habe, fand ich enorm beeindruckt, wie dort über andere geredet wird. Wie wichtig den Menschen die Meinung der Nachbar:innen ist, wie sehr sie ihr Verhalten danach ausrichten und wieviel Aufwand sie betreiben, um Vorkommnisse zu verbergen.

Mir gefällt es sehr gut, Eilis dabei zu begleiten, wie sie mit der Situation umgeht; wie sie über ihre langjährige Ehe und ihr Leben mit fast erwachsenen Kindern nachdenkt. Und es ist spannend, zuerst die italienische Familie kennenzulernen und später dann die Menschen in dem kleinen irischen Ort, an den Eilis zurückkehrt. Ich hab erst danach »Brooklyn« gelesen, was unterhaltsam war, obwohl ich das Ende kannte. Und ich vermute, es wird einen dritten Band geben…

Zwischenzeitlich ebenfalls gelesen habe ich »Mütter und Söhne«, einen Erzählband von Colm Tóibín mit sehr originellen und berührenden Geschichten über Söhne, deren Mütter, und das komplizierte familiäre Miteinander, der mir sehr gut gefallen hat; von allen drei Büchern am besten. Die Söhne sind Diebe, Sänger und Priester; die Mütter Inhaberinnen von Geschäften, Sängerinnen und alkoholkrank – die meisten lebend, manche schon tot. Und in einer Erzählung tauchen ganz unerwartet Menschen und Orte aus den beiden Romanen auf; zeitlich dazwischen spielend, vor allem Nancy, die Inhaberin eines kleinen Supermarktes und ihr Sohn Gerard.

Gute und leicht lesbare Unterhaltung, die ich wirklich empfehlen kann.

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Colm Tóibín
Long Island

ISBN 978-3-446-27947-6
Hanser Literaturverlage 2024